Die Taktik der Völkischen Siedler in und um Leisnig

Völkische Siedler haben sich seit einigen Jahren rund um Leisnig niedergelassen. Im Interview spricht Experte Nikolas Dietze über deren Ziele, Telegram und wie es der Zivilgesellschaft vor Ort damit geht.

Seit ein paar Jahren haben sich Völkische Siedler in und um Leisnig niedergelassen. Für den Digital-Report des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig hat Nikolas Dietze den Telegram-Kanal der Siedler analysiert.

Herr Dietze, seit wann gibt es die Strukturen der völkischen Siedler in Mittelsachsen?

Der offenbar systematische Zuzug, der letztes Jahr in den Medien öffentlich bekannt geworden ist, vollzieht sich bereits seit einigen Jahren. Erste Ansiedlungen im Raum Leisnig gehen dabei bis 2015 zurück. Völkische Aktivitäten lassen sich im Landkreis bereits aber seit mehreren Jahrzehnten nachweisen und anhand verschiedener Veranstaltungen der Szene dokumentieren. Zuletzt fand unter anderem ein sogenannter „Maitanz“ statt, bei dem Völkische aus der ganzen Bundesrepublik nach Mittelsachsen gekommen sind.

Warum eignet sich aus Sicht der Siedler Leisnig und Umgebung, um sich dort niederzulassen?

Dieser ländliche-kleinstädtische Raum erfüllt Gelegenheitsstrukturen, die so einen Sozialraum anfällig werden lassen für eine rechte Bedrohungsallianz. Im Zuge des demografischen-sozialen Wandels gibt es infrastrukturelle, aber auch kulturelle Rückbauten. Es gibt beispielsweise wenig Vereinsleben, es gibt Positionen, die unter- oder gar nicht besetzt sind. Die Völkischen Siedler probieren, diese mit Leben zu behauchen, um sich als Kümmerer und Gestalter präsentieren zu können. Aus der Forschungsperspektive spricht aber nichts eindeutig dafür, warum die Raumnahme in Leisnig stattfindet und nicht in einer anderen sächsischen Kleinstadt, die einen ähnlich Typ Sozialraum darstellt.

Vor über einem Jahr wurde der Telegram-Kanal leisnig.info sowie die dazugehörige Website gegründet. Was hat es damit auf sich?

Der Telegram-Kanal ist im Zuge der Corona-Proteste, die ab April 2021 stattfanden, entstanden und zeitgleich online gegangen. Darin wurden die Protestkundgebungen beworben, aber auch gezielt unpolitische Themen, wie das Wein- oder Stadtfest. Damit verweisen sie auf ein vermeintliches Kollektivinteresse und ein geteiltes Alltagsleben, womit sie versuchen sich innerhalb der Kleinstadt zu verankern. Das ist wesentlicher Bestandteil ihrer Raumnahmestrategie vor Ort.

In Ihrem Bericht schreiben Sie, dass der Kanal für die regionale Entwicklung in Leisnig eine zentrale Rolle einnimmt. Welche ist das?

Im Prinzip ist es das erste Kommunikationsmedium, was natürlich nicht ein offizielles Informationsmedium der Völkischen Siedler ist, aber was sich anhand der Themen und der personellen Überschneidung ganz klar so bezeichnen lässt. Woran man sieht, dass der Kanal eine zentrale Rolle spielt, ist, dass nach dem raschen Ende der Corona-Proteste im Juni letzten Jahres der Kanal als Informationsmedium erhalten geblieben ist.

Es wird versucht ein alternatives Informationsmedium aufzubauen, was sich als vermeintlich unpolitische Nachrichtenplattform darstellt. Auf der Homepage finden sich aber auch explizit völkische Inhalte, wie das Video einer Wintersonnenwendfeier aus dem Dezember 2021. Insgesamt werden diese expliziten Inhalte selten geteilt, da man das angestrebte Bild des „freundlichen Nachbars“ innerhalb der Kleinstadt nicht gefährden will. Auch im Zuge der Energieproteste fanden jüngst Kundgebungen in Leisnig statt, die wieder von dem Kanal beworben wurden.

Lässt sich einschätzen, wie der Kanal angenommen wird?

In der ersten Ausgabe des Digitalreports haben wir eine Analyse über stark frequentierte Telegramkanäle in Sachsen, die der rechten Szene zuzuordnen sind, durchgeführt. Leisnig.info gehörte zu den zehn am meisten frequentierten Kanälen. Jetzt haben diesen etwa 700 Leute abonniert. Was Forschungsergebnisse vor Ort gezeigt haben ist, dass es auf Ebene des affektiven Erlebens durchaus Unbehagen oder auch Wut innerhalb der lokalen Bevölkerung gibt, weil die Völkischen Siedler zivilgesellschaftliches Engagement anderer auf leisnig.info als ihr eigenes darstellen und vereinnahmen.

Was war das für eine Forschung vor Ort?

Im Vordergrund der Forschung stand die Sichtbarmachung und Phänomenbeschreibung extrem rechter Raumergreifungsstrategien und hegemonialer Bestrebungen im Verhältnis zu ihren Entwicklungslinien und Bedingungsfaktoren. Dafür wurden im Rahmen einer kleinräumlichen Untersuchung unter anderem Interviews mit Vertretern der demokratischen Zivilgesellschaft in Leisnig geführt. Deren Erfahrungen und Wahrnehmungen waren dabei ein zentraler Gegenstand der Betrachtung.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Positiv ist, dass es Aktivierungseffekte in der Zivilgesellschaft gibt. Auf das Problem wurde hingewiesen und das hat neue Impulse ausgelöst, sich damit auseinanderzusetzen und etwas dagegen machen zu wollen. Das ist sehr förderlich. Denn Forschungsergebnisse zeigen, der Erfolg von einer rechten Raumnahme hängt stark davon ab, ob es eine öffentliche Aushandlung des Problems gibt. Andererseits wurde sich mehr Unterstützung durch die Stadt gewünscht. Es gab kaum öffentliche Positionierungen durch offizielle Stellen der Stadtverwaltung und dadurch fühlten sich die Menschen teilweise im Stich gelassen.

Das Leipziger Magazin „kreuzer“ hatte im vergangenen Jahr einen Artikel über die Völkischen Siedler geschrieben. Da wollte sich der damalige Bürgermeister erst gar nicht dazu äußern, später dann nur recht vage.

Das Beschweigen und die öffentliche Aushandlung lokaler Probleme ist Teil einer Abwehrstrategie, die einer reflexiven Stadtgemeinschaft entgegensteht und Akteure, die lokale Probleme richtigerweise öffentlich problematisieren wollen, hemmt. Das passiert allerdings nicht nur in Leisnig, sondern lässt sich auch in anderen Gemeinden und Kleinstädten beobachten. Stadtverwaltungen haben bei einer öffentlichen Problemauseinandersetzung zudem auch davor Angst, dass das Image der Stadt und der lokale Ruf beschädigt wird.

Was ist das Ziel der Völkischen Siedler?

Der Telegram-Kanal ist fester Bestandteil der rechten Raumnahme und ihrer Erprobung in Leisnig durch die völkischen Siedler. Der digitale Raum ist dabei ein Mosaikstück des Gesamtvorhabens Sozialisationsprozesse vor Ort auszulösen, die auf längere Sicht dazu führen sollen, dass nicht mehr hinterfragt wird, dass völkische Siedler in dem Ort leben und sie in zivilgesellschaftlichen Bereichen engagiert sind und somit ihre völkisch-nationalistische Ideologie verbreiten.

Dafür versuchen sie in verschiedene zivilgesellschaftliche Bereiche vorzudringen, die spärlich oder gar nicht durch bestehende Strukturen belegt sind, um diese zu besetzen und sich so in der lokalen Bevölkerung als sogenannten „Kümmerer“ zu etablieren. Die Darstellung als Kümmerer soll den Völkischen dabei helfen, eine Wertschätzung und Akzeptanz innerhalb Leisnigs aufzubauen, die dazu beitragen soll, längerfristig die soziale Kontrolle innerhalb der Kleinstadt zu erlangen.

Können Sie eine Einschätzung abgeben, wie die Entwicklung der Völkischen Siedler in Leisnig aussehen könnte?

Die Strategie der völkischen Siedler muss öffentlich bekannt gemacht werden. Es hängt stark davon ab, wie sich damit auseinandergesetzt wird. Sollte das Problem beschwiegen werden und die Stadtverwaltung sich damit nicht auseinandersetzen, droht die Gefahr, unterstützend zu wirken.

Was dagegen spricht, ist, sind die schon erwähnten zivilgesellschaftlichen Aktivierungseffekte, die es vor Ort gibt. Lokale Akteure, aber auch Beratungsstellen wie das Kulturbüro Sachsen leisten vor Ort einen wichtigen Beitrag, auf das Problem hinzuweisen und es innerhalb Leisnigs sichtbar werden zu lassen. Aber die Arbeit liegt nicht nur bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren, sondern in einem mindestens genau so großen Maß bei Stadtverwaltung, Landkreis und Sicherheitsorganen.

Nikolas Dietze hat Politikwissenschaften in Freiburg und Leipzig studiert. Seit Juni 2021 arbeitet er als Sozialwissenschaftler am Else-Frenkel-Brunswik Institut für Demokratieforschung der Universität Leipzig. Dietze beschäftigt sich vor allem mit Dynamiken und Strukturen extrem rechter Akteure sowie antidemokratischen Protestbewegungen und Mobilisierungsstrategien.

Das Interview führte Lea Heilmann.


18.08.2021 Sächsische Zeitung

Leisnig will über Völkische Siedler aufklären

Das aktuelle Heft „Monitorium Rechts“ des Kulturbüros Sachsen beschäftigt sich mit dieser Bewegung, die auch in der Region aktiv ist.

Nichts gegen die Bewegung der völkischen Siedler zu tun, hält Sophie Spitzner für den falschen Weg. Sie arbeitet beim Kulturbüro Sachsen, das jetzt die Broschüre „Monitorium Rechts“ herausgab (wir berichteten).

Vorher war sie lange Zeit für den Verein „Treibhaus“ in Döbeln tätig und setzte sich dort bereits mit Neonazis und anderen extrem rechten Bewegungen auseinander. Dass diese von Völkischen Siedlern nachgezogen werden, befürchten auch engagierte Leisniger.

Von Ferne betrachtet der nette Großstädter

Tatsächlich seien die Familien der Völkischen Siedler fest verwurzelt in einem rassistischen, sozialdarwinistischen und antisemitischen Weltbild.

In Leisnig sind Anhänger der Bewegung zu Jahresbeginn bei Demonstrationen gegen die damals geltenden Corona-Maßnahmen aufgefallen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie als Redner aufgetreten sind.

Einige Stadträte forderten daraufhin, dass sich Leisnig gegen diese Bewegung stellt. Handlungsempfehlungen holten sich die Stadträte im Frühsommer von Vertretern des Kulturbüros Sachsen und des Landratsamtes Mittelsachsen ein.

Leisnigs Bürgermeister Tobias Goth (CDU) kündigt nun an, dass die Verwaltung die in der vergangenen Woche erschienene Broschüre „Monitorium Rechts“ bestellen und in der Infothek im Rathausfoyer sowie in verschiedenen anderen Anlaufstellen der Verwaltung auslegen will.

Damit setzt die Kommune um, was der Rathauschef vor der Sommerpause angekündigt hat: die Leisniger über die Bewegung, die sich vor allem in den Ortsteilen auszubreiten versucht, aufzuklären.

Die ersten Plakate wurden gestohlen


23.07.2021 sächsische Zeitung

Leisnig wehrt sich gegen Extremisten

Die Kommune will mehr Aufklärung anbieten. Außerdem sind Plakatierungen auch an öffentlichen Gebäuden geplant.

Die Pause bei den Demonstrationen montags auf dem Leisniger Marktplatz nutzen Bürgermeister Tobias Goth (CDU) und die Stadträte, um sich mit der Entwicklung auseinanderzusetzen.

Unter diejenigen, die wochenlang im Zentrum der Stadt gegen Corona-Regelungen protestierten, hatten sich immer wieder Redner gemischt, die der Gemeinschaft „Völkische Siedler“ angehören sollen.

Auch weitere Anhänger der Gruppe waren Beobachtern zufolge häufiger nach Leisnig zu diesen Veranstaltungen angereist. Das verfolgten viele der Stadträte mit Sorge. Mehrere verlangten daraufhin, dass die Stadt Leisnig dazu Stellung bezieht.

Die nächsten Plakate hängen

Das passierte unter anderem gemeinsam mit einem neu gegründeten Bündnis. Dessen Plakate am Haus Markt 17, das der Kommune gehört, sollen zeigen, dass sich die Leisniger in keine radikale Ecke drängen lassen wollen.

„Wir haben weitere solcher Plakate anfertigen lassen und werden diese auch an öffentlichen Gebäude hier zentral auf dem Markt aufhängen“, kündigte Bürgermeister Tobias Goth (CDU) an. Am Rathaus ist das inzwischen passiert.

Dies nannte er als ein Ergebnis eines Informationsgespräches. Dazu hatten sich die im Verwaltungsausschusses mitarbeitenden Räte die Extremismusbeauftragte des Landratamtes Mittelsachsen sowie Vertreter des Kulturbüros Sachsen eingeladen. Anliegen sei dem Rathauschef zufolge gewesen, sich über die rechte Szene und speziell die Gruppierung der Völkischen Siedler zu informieren.

Bestimmtes Schema ist erkennbar

Klaus-Dieter Kaiser von der evangelischen Akademie der Nordkirche Rostock hat im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung ein Dossier über Rechtsextremismus erstellt. Darin bringt Kaiser seine Einschätzung des Phänomens der „Völkischen Siedler“ auf den Punkt. Er bezeichnet sie als eine „Gruppe von Rechtsextremen, welche im ländlichen Raum versuchen, ihre Kultur zu leben und zu etablieren“.

Wie das aussehen könnte, ist in der Informationsrunde mit den Stadträten veranschaulicht worden, sagte Goth im Nachgang. Die Anhänger der Gruppe würden überwiegend in den Ortsteilen Immobilien erwerben, herziehen und sich integrieren. Sie würden sich nach Goths Schilderungen anbieten, Verantwortung in Vereinen, Kitas und Schulen zu übernehmen. Dafür gebe es in Leisnig indes ein konkretes Beispiel im Bereich einer Hilfsorganisation.

Kommune setzt auf Aufklärung

Beobachter der Szene haben analysiert, dass die Völkischen Siedler da nach einem bestimmten Muster vorgehen, mitunter bestimmte Kleidung bevorzugen, bestimmte Rituale praktizieren. Dazu gebe es inzwischen Aufklärungsangebote, „die durchaus auch mithilfe von Förderprogrammen umgesetzt werden können“, so der Leisniger Bürgermeister.

Daher wolle die Kommune versuchen, solche Angebote zu nutzen und Prävention zu betreiben. Der Rathauschef könnte sich vorstellen, dass Lehrerschaft, Vereine und Kitas oder Organisationen die ersten Ansprechpartner sind. Insgesamt sei jedoch Fingerspitzengefühl erforderlich. Denn niemand soll von vorherein ausgeschlossen werden.

Zuzug ist nicht zu verhindern

Den Zuzug weiterer Völkerischer Siedler nach Leisnig und in die Ortsteile zu verhindern, ist der Kommune unmöglich. Schließlich muss niemand bei der Anmeldung im Meldeamt sagen, welcher Ideologie er sich verbunden fühlt.

Genauso wenig ist es möglich, Kundgebungen auf dem Markt oder an vielen anderen Stellen der Stadt zu verhindern. „Freie Meinungsäußerung ist ein Grundrecht“, sagte Goth. Mehrfach sah sich die Kommune der Forderung gegenüber, die Demonstrationen einfach zu verbieten.

Ohnehin ist für die Zulassung oder Ablehnung einer angemeldeten Demonstration die Versammlungsbehörde beim Landkreis zuständig. Mit der hatte sich die Kommune wiederholt abgestimmt.


30.12.2014 Sächsische Zeitung

Braunes aus der Provinz

Sie machen in Öko, trinken Bier mit dem Nachbarn, helfen gern und haben mit Politik nichts am Hut – angeblich. Doch „völkische Siedler“ unterwandern in vielen Gegenden die Dörfer.

Von Andreas Förster

Zwei Dutzend Häuser, einige davon leer stehend, eine Kirche, drei Straßen. Ringsum Felder und ein Wald – das ist Wibbese, ein kleines Dorf im Wendland. Verschlafen würden es die einen nennen, idyllisch die anderen. Aber mit Ruhe und Idylle ist es in der 84-Seelen-Gemeinde seit knapp einem Jahr nicht mehr weit her – seit sich ein Bauernhof am Göhrder Weg zu einem Treffpunkt von Rechtsextremen entwickelt hat.

Im vergangenen Februar war ein junges Paar in das leer stehende Haus am Dorfrand eingezogen, erzählen Knut Jahn und Barbara Kersten. Die beiden Rentner sind freundliche Leute mit offenem Blick, aber auch mit wachem Gespür für Menschen, die ihre wahren Absichten und Gedanken zu verbergen versuchen. Kein Wunder, wir sind hier schließlich im Wendland, einer Aufrührer- und Protestlergegend, die sich seit Jahrzehnten nicht nur gegen Atommüll, sondern auch gegen Scheinheiligkeit und falsche Versprechen zur Wehr setzt.

So hatten die beiden auch von Anfang an ein komisches Gefühl, was ihre neuen Nachbarn am Göhrder Weg betrifft. „Das Pärchen hatte vorher ein paar Jahre in einem anderen Haus hier im Dorf gewohnt“, sagt die 67-jährige Barbara Kersten. Ab und zu habe man sie gesehen, immer nett und hilfsbereit seien die jungen Leute gewesen. „Aber auch unauffällig. Fast zu unauffällig.“ Als das Paar nun den leer stehenden Hof kaufte neben dem, den Barbara Kersten und ihr Lebensgefährte Knut Jahn bewohnen, ließ sich die neue Nachbarschaft zunächst ebenfalls gut an. „Sie brachten uns Eier und Ziegenmilch vorbei, grüßten immer freundlich über den Zaun und boten ihre Hilfe an“, erinnert sich Jahn.

Die neuen Nachbarn kündigten an, sich als Ökolandwirte zu versuchen. Sie nannten ihr Vorhaben „ökologisch orientiertes Selbstversorgungsprojekt“ und wollten Hühner züchten, Schweine und Schafe. Im Garten hinter dem Haus legten sie eine Streuobstwiese an. Im Sommer zog für ein paar Monate ein befreundetes Pärchen aus Mecklenburg-Vorpommern in das frühere Haus der neuen Nachbarn und half auf dem Hof. „Heute wissen wir, dass dieses Paar aus Mecklenburg ganz aktive Neonazis sind, mit Verbindungen zur NPD“, sagt Jahn. Es blieb nicht der einzige Besuch von Rechten im Göhrder Weg. An fast jedem Wochenende reisten junge Leute aus ganz Deutschland an, unverkennbar der rechten Szene zuzuordnen. Sie hörten dröhnende Rockmusik und ließen sich von ihrem Gastgeber das Siedlungsprojekt erklären.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Verhältnis von Barbara Kersten und Knut Jahn zu den neuen Nachbarn längst abgekühlt. Der Rentnerin waren Tätowierungen am Oberkörper des Nachbarn aufgefallen, keltische Runen und ein Reichsadler. Wenn er mit dem Motorrad durchs Dorf fuhr, trug er stets einen ehemaligen Wehrmachts-Stahlhelm. Inzwischen wissen sie, dass der neue Dorfbewohner aus Ostfriesland stammt, sich dort im sogenannten Nationalen Widerstand bewegt hatte, einem losen Neonazi-Verbund. In den letzten Jahren war er politisch offenbar weniger aktiv. Dafür ist er nun unter die Landwirte gegangen, als sogenannter „völkischer Siedler“.

Dem Phänomen der „völkischen Siedler im ländlichen Raum“ hat sich jetzt die Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS) in einer von der Bundesregierung geförderten Studie genähert. Es ist die erste Untersuchung, die sich diesen Ansiedlungsprojekten rechter Gruppen und Familien auf dem Lande widmet. Andere Extremismus-Forscher und Soziologen hatten das Thema bislang nur oberflächlich zur Kenntnis genommen. Dabei ist Wibbese nur der jüngste Fall aus einer stetig wachsenden Zahl solcher „völkischen“ Siedlungsgemeinschaften. In neun der 16 Bundesländer gibt es bereits entsprechende Projekte, die meisten davon in Ostdeutschland: Allein zehn Dörfer in Mecklenburg-Vorpommern sind davon betroffen, vier in Brandenburg, drei in Sachsen-Anhalt, je eines in Thüringen und Sachsen. Aber auch in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern gibt es „völkische Siedler“. Die Idee ihrer Selbstversorgungsprojekte ist ideologisch determiniert und lässt sich auf die Formel reduzieren: „Gesunder Körper, gesundes Leben, gesundes deutsches Volk“.

Während die rechten Siedlergemeinschaften in Ostdeutschland eher ein vergleichsweise neuer Trend sind, gibt es in westdeutschen Dörfern bereits völkische Sippen, die über mehrere Generationen gewachsen sind. Einige von ihnen, etwa in Schleswig-Holstein und in der Lüneburger Heide, bestehen schon seit der Zeit des Nationalsozialismus und besitzen daher erheblichen Einfluss in der rechten Szene. Sie leben die Ideale der Blut- und Boden-Ideologie der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft vor, indem sie „reinrassige“ Familien mit vielen Kindern gründen und sich durch Handwerk und – oft mit vormodernen Arbeitsweisen betriebene – Landwirtschaft weitgehend unabhängig versorgen. Die „schaffende“ Tätigkeit auf der eigenen Scholle wird bewusst als Gegenstück zum antisemitischen Klischee des „raffenden“ Finanzkapitals inszeniert und propagiert. Hinzu kommen die Pflege eines völkischen Brauchtums, das auf vorchristlichen nordisch-germanischen Glaubensvorstellungen basiert, sowie die Durchsetzung der traditionellen Geschlechterrollen von Mann und Frau in der Familie.

Weil die Siedlungsprojekte sich meist in kleinen, entlegenen Dörfern finden, eröffnet das den Eltern zudem die Chance, ihre Kinder mit weniger Einflüssen von außen, insbesondere der offenen demokratischen Gesellschaft, zu erziehen. Darüber hinaus werden die Jungen und Mädchen zu Veranstaltungen oder in Zeltlager geschickt, die von extrem rechten Jugendorganisationen wie etwa Sturmvogel, Bund Heimattreuer Jugend oder Jugendbund Pommern organisiert werden. Dabei nehmen die Kinder unter anderem an Manöverspielen teil und erhalten ein rassistisch geprägtes Gesellschaftsbild vermittelt.

Anne Schmidt, die für die AAS die Studie erarbeitet hat, geht inzwischen von rund 1000 rechten Siedlern aus, die – wie etwa im mecklenburgischen Jamel – zum Teil schon ganze Dörfer übernommen haben. „Das ist eine erschreckende Entwicklung, die wir seit einigen Jahren beobachten“, sagt sie. Rechte Personen, Familien meist, würden sich gezielt in wenig bewohnten Gebieten ansiedeln, um fernab der Städte ungestört ihren Lebensentwurf zu leben und ihre Kinder in einer rückwärtsgewandten Ideologie aufzuziehen. „Ihre Weltanschauung, die sie in die dörflichen Gemeinschaften hineintragen, geht auf das rassistisch-antisemitische Denken der völkischen Bewegung vom Anfang des 20. Jahrhunderts zurück“, so Schmidt. Diese Anschauung aber lehne Weltoffenheit und die Vielfalt von Lebensentwürfen ab. Daneben knüpften viele rechte Bauern mit ihren Konzepten auch an Aspekte von Esoterik, Öko-Bewegung und Tierschutz an und bedienen einen Lifestyle, der voll im Trend liegt. „Und sie bekennen sich zu Brauchtum und Tradition, was bei vielen Dörflern ankommt“, sagt Schmidt. Vorbehalte seien selten, auch weil sich die rechten Siedler nach außen unpolitisch und als harmlose, nette Nachbarn geben.

Dass die Siedler damit eine Dorfgemeinschaft spalten können, haben auch Knut Jahn und seine Lebensgefährtin erleben müssen. „Als wir unsere Beobachtungen über das rechte Treiben bei unserem Nachbarn öffentlich machten und entsprechende Gegeninitiativen im Dorf anstoßen wollten, bekamen wir viel Zustimmung, aber auch offene Ablehnung zu spüren“, erzählt Jahn. Als „Quatsch“ seien ihre Schilderungen von einigen Wibbesern abgetan worden, andere warfen ihnen Stimmungsmache vor und dass sie „Nestbeschmutzer“ seien, die nur die Ruhe im Dorf stören würden. „Unser Nachbar sei doch immer nett und hilfsbereit, wurde mir dann gesagt. Und dass man, solange er seine politischen Einstellungen für sich behalte und seinen Hof ordentlich führe, doch auch gut ein Bier mit ihm trinken könne oder zwei.“

Das Grundstück, das Wibbese seit Monaten entzweit, liegt an diesem Tag still und verrammelt da. Die Türen und Fenster sind zu, auch der Eingang zum Geräteschuppen, an dem ein altes Emailleschild mit der in Frakturschrift gehaltenen Bezeichnung Luftschutzbunker prangt, ist verschlossen. Warnschilder am Zaun verbieten in martialischer Sprache das Betreten des Anwesens. Der Besitzer hat Journalisten ohnehin schon mehrfach wissen lassen, dass er nicht mit der Presse spreche. Er fühle sich verleumdet und bedroht, ließ er eine Lokalzeitung wissen. Seine Haltung dokumentiert er am Haus: Ein Fenster an der Giebelseite, das zum Nachbargrundstück von Knut Jahn zeigt, ist mit dem Bild eines riesigen Stinkefingers zugeklebt.

Über den Konflikt um den „völkischen Siedler“ will in Wibbese kaum einer etwas sagen. Es ist, als hinge eine diffuse Angst über dem Dorf, dass der Streit die Grundlagen des Zusammenlebens nachhaltig zerstören könnte. Und so will niemand, der angesprochen wird, Position beziehen. Ute Seckendorf, Projektleiterin in dem vom Innenministerium aufgelegten Bundesprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“, ist solche Zurückhaltung nicht fremd. „Die rechten Siedler in den Dörfern sind ja nicht nur Biobauern, Hebammen oder Schmied, sie engagieren sich auch im Sportverein, in der Freiwilligen Feuerwehr oder im Gemeinderat“, sagt sie. „Bei so viel bürgerschaftlichem Engagement fällt es natürlich schwer, sich gegen diese Menschen zu stellen.“ Denn gerade auf dem Land komme es darauf an, dass jeder mitwirkt, damit die Dorfgemeinschaft funktioniert. „Und wie soll man damit umgehen, wenn ein Mitglied der Feuerwehr, der bei jedem Einsatz vorn dabei ist, der sich vor keinem Dienst drückt, beim Bier auf dem Dorffest plötzlich davon spricht, dass man auf die Reinheit der deutschen Rasse achten muss?“

Eine „Wortergreifungsstrategie“ sei hier nötig, sagt Ute Seckendorf. „Die Menschen müssen lernen, wie man rassistischen, sexistischen und homophoben Sprüchen begegnen kann und auch der Ideologie, die mal mehr, mal weniger offen von ‚völkischen Siedlern‘ transportiert wird.“ Das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“, das mit jährlich sechs Millionen Euro in ländlichen und strukturschwachen Gegenden eine lebendige, demokratische Kultur des Gemeinwesens fördern soll, will diese „Wortergreifungsstrategie“ unterstützen. „Eben weil wir beobachten, wie Rechtsextreme immer stärker in den ländlichen Raum ausweichen, wollen wir dort mehr Demokratieberater schulen und Argumentationshilfen gegen die Nazi-Parolen geben“, sagt Ute Seckendorf.

In Wibbese sind einige der Dorfbewohner selbst aktiv geworden. Gemeinsam mit dem Lüchow-Dannenberger Bündnis gegen Rechts haben sie bereits eine Informationsveranstaltung organisiert und im Dorf Plakate mit dem Slogan „Schöner leben ohne Nazis“ aufgehängt. Barbara Karsten und Knut Jahn werden überdies einen Infopunkt unter dem Motto „Kunst und Kultur für Demokratie und gegen Rechts“ in ihrem Garten aufbauen. „Wir wollen den ‚völkischen Siedlern‘ etwas Nachhaltiges entgegensetzen, also Information und Aufklärung“, sagt Jahn.

Der geplante Infopunkt am Gartenzaun soll mit Aufklärungsmaterial über Rechtsextremismus bestückt werden und mit einem „Atlas der braunen Punkte im Wendland“, der von Besuchern ergänzt werden kann. Außerdem wird man sich hier auch informieren können über das Schicksal der Juden im Wendland während der Naziherrschaft. „Wir haben schon Unterstützung und Hilfe zugesagt bekommen von Künstlern und Initiativen weit über die Region hinaus“, sagt Barbara Karsten. Im Frühjahr und Sommer wollen sie dann auch Lesungen, Ausstellungen und Konzerte in ihrem Garten organisieren. Die 67-Jährige ist zuversichtlich: „Damit können wir einen lebendigen Gegenentwurf zu dem völkischen Siedlungsprojekt unseres Nachbarn entwickeln“, sagt sie. „Und vielleicht ziehen wir so auch den Rest von Wibbese auf unsere Seite.“